3100 Kilometer auf dem Pferderücken durch die Mongolei

von Regula Sandi

Nirgends erfährt man die endlose Weite, die Ruhe und die Ursprünglichkeit der Natur in solch geballter Kraft wie bei einem Pferdetrekking in der Mongolei – und spendet dabei noch für einen guten Zweck. 13 Reiterinnen haben am wohl längsten Wohltätigkeitsritt der Welt, dem „Great Mongolian Ride“, teilgenommen und dabei Geld für die Zahngesundheit mongolischer Kinder gesammelt. 3100 Kilometer über hohe Berge und durch endlose Steppe. Ein Erfahrungsbericht.

Wir befinden uns im äussersten Westen der Mongolei, fernab der Zivilisation, im Altai-Gebirge auf 3000 Meter über Meer. Hier beginnt der „Great Mongolian Ride“. Nebelschwaden ziehen über die Hochebene, wo unsere Pferde grasen. Es ist kalt. Mit klammen Fingern greifen wir die Zügel unserer Reittiere, welche uns fortan jeden Tag ein Stück weiter Richtung Osten tragen. „Jaui“ rufen Sumbe und Baagii, unsere mongolischen Guides, mit einer Handbewegung Richtung Horizont. Das Zeichen zum Aufbruch.

Wir sind in die Mongolei gereist, um ein unvergessliches Abenteuer zu erleben. Aber auch, um einen guten Zweck zu unterstützen. 20 Prozent der Einnahmen aus dem Ritt fliessen direkt in die „Misheel Kids Foundation“, einer Stiftung, welche sich für die Zahngesundheit bedürftiger Kinder in der Mongolei einsetzt. „Misheel“ ist mongolisch und bedeutet strahlendes Lächeln. Betroffen vom desolaten Zahnzustand vieler Kinder hat die diplomierte Schweizer Dentalhygienikern und Initiantin des „Great Mongolian Ride“, Gabriella Schmidt-Corsitto, die Stiftung 2015 zusammen mit einer mongolischen Zahnmedizinerin ins Leben gerufen. Die Organisation behandelt Kinder, die auf anderem Weg keinen Zugang zu zahnmedizinischer Betreuung haben, unterrichtet sie in Mundhygiene und klärt über den Zusammenhang von Ernährung und Zahngesundheit auf. Aus dem Engagement für die Zahngesundheit der Kinder und der Faszination für Pferde ist die Idee zum Wohltätigkeitsritt quer durch die Mongolei entstanden. Zusammen mit dem lokalen Familienunternehmen „Saraa’s Horse Trek Mongolia“ stellte Schmidt-Corsitto, selbst eine begeisterte Reiterin, eines der grössten Abenteuer für Pferdeliebhaber aus der ganzen Welt auf die Beine.

Zuerst im Schritttempo, dann im Trab bewegen wir uns durch die wolkenverhangene, mystisch wirkende Gebirgslandschaft, in der auch Wölfe und Bären beheimatet sind. Wir sitzen auf kleinen, stämmigen Mongolenpferden. Die Tiere sind äusserst genügsam und verfügen über eine enorme Ausdauer. Wie die Guides reitet Gabriella Schmidt-Corsitto auf einem traditionellen mongolischen Sattel. Dieser ist aus einem Holzgestell gefertigt, das mit feinem Stoff überzogen ist. Rechts und links prangen kunstvolle Ornamente. Wir sitzen auf russischen Sätteln aus Leder.

Immer tiefer tauchen wir in die Landschaft ein. In der Ferne schiebt sich ein Gletscher wuchtig durch ein Tal zwischen hohen, schneebedeckten Bergen. Fast wähne ich mich in der Schweiz. Wenn da rechts und links von mir nicht die braunen, beigen, grauen und gescheckten Pferderücken wären. Wir sind mit einer Herde von 23 Pferden unterwegs. Dicht aneinandergedrängt traben sie neben uns her. Die Reittiere werden jeweils von den Guides mit einem Lasso eingefangen. Die anderen laufen frei mit. 50 Kilometer legen wir durchschnittlich an einem Tag zurück. Manchmal sind es auch mehr und wir reiten bis in den Abend hinein. Dort, wo es genügend Gras und Wasser für unsere Pferde gibt, schlagen wir unsere Zelte auf.

Was für uns eine einmalige Erfahrung und ganz schön anstrengend ist, ist für die Mongolen fester Bestandteil ihrer Kultur. Seit je her zogen sie als Nomaden mit ihren Tieren von Weideplatz zu Weideplatz. Das Reiten war lange Zeit die einzige Möglichkeit, sich in diesem riesigen Land effizient fortzubewegen. Dschingis Khans Imperium, das vom Chinesischen Meer bis nach Osteuropa reichte, wurde auf dem Rücken der Pferde erbaut. Die Mongolen sind stolz auf ihre Geschichte und verehren den berühmten Eroberer noch heute. Ihm sind eine Vielzahl von kulturellen Anlässen wie Pferderennen, Ringkämpfe, Bogenschiessen und rituelle Tänze gewidmet.

Die Landschaft vor uns wird immer flacher und karger. Im schaukelnden Rhythmus der Pferde traben wir bald über baumlose, topfebene Steppe. Über uns strahlend blauer Himmel, um uns endlos scheinender Raum. Das Wetter ist vom kontinentalen Klima geprägt. Blies uns eben noch ein eisiger Wind entgegen, treibt uns im nächsten Augenblick die Sonne den Schweiss auf die Stirn. Der Sommer ist kurz. Der Winter hart und lang. Wir sind den Kräften der Elemente ausgesetzt und verschmelzen gleichzeitig mit ihnen. Ich erahne, welche Strapazen ein Leben in dieser Wildnis mit sich bringt, aber auch, welche intensiven Glücksmomente.

Noch heute ist das traditionelle Nomadentum in der Mongolei verbreitet und ein grosser Teil der Bevölkerung lebt von der Viehzucht. Ziegen, Schafe, Pferde, Kamele oder Yaks sind Einkommens- und gleichzeitig Versorgungsquelle. Doch die Lebensgrundlage der Nomaden ist bedroht. Durch den Klimawandel, Bergbau und Überweidung breitet sich die Wüste immer weiter aus. Die Tiere finden zu wenig Futter und verenden während den harten Wintermonaten. Auf der Suche nach einem besseren Leben lassen sich immer mehr Nomaden mit ihrem Hab und Gut vor den Toren der Hauptstadt Ulaanbaatar nieder. Häufig leben sie dort in prekären Verhältnissen, finde keine Arbeit und sind mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Tausende Kinder leiden unter dieser Situation und sind oft schon in jungen Jahren von Obdachlosigkeit und Mangelernährung betroffen. In der Hauptstadt sind zahlreiche Waisenhäuser und Kindertagesstätten entstanden, die versuchen, die Not der Kleinsten zu lindern. Die „Misheel Kids Foundation“ besucht diese Einrichtungen und führt kostenlos Zahnbehandlungen durch. Zudem erhalten die Kinder Zahnputzinstruktionen.

„Wenn die Kinder lernen, wie sie ihren Zähnen Sorge tragen können, erfahren sie Selbstwirksamkeit. Dies wirkt sich auch in anderen Lebensbereichen positiv aus“, ist Gabriella Schmidt-Corsitto überzeugt. Ihr Engagement basiert auf jahrelanger Erfahrung. Im zentralafrikanischen Gabun richtete sie in den Achtzigerjahren für das Albert-Schweizer-Krankenhaus eine mobile Zahnklinik ein und versorgte hunderte benachteiligte Kinder in entlegenen Regionen. Danach lebte sie mit ihrer Familie in verschiedenen anderen afrikanischen Ländern. Seit knapp zehn Jahren ist sie nun in der Mongolei zu Hause und setzt sich mit der „Misheel Kids Foundation“ für die Zahngesundheit der mongolischen Kinder ein. Daneben ist sie, wenn immer möglich, im Sattel unterwegs und begleitet für „Saraas Horse Trek Mongolia“ geführte Pferdetrekkings für reitsportbegeisterte Touristen. Ein Teil der Einnahmen kommt der Stiftung zu gut. Der „Great Mongolian Ride“ ist ihr lange gehegter Traum.

Als Teilnehmende dürfen wir an der Verwirklichung dieses Traums teilhaben. In 64 Tagen, aufgeteilt in sechs Etappen, führt der Trek von West nach Ost quer durch das ganze Land. Nach zehn Tagen gibt’s jeweils einen Ruhetag. Während wir ausschliesslich zu Pferd unterwegs sind, transportieren Begleitfahrzeuge unsere Schlafzelte, ein Ger (das traditionelle mongolische Rundzelt, auch Jurte genannt), unser Gepäck und das Essen. Es ist ein einfaches Leben, das wir in diesen Tagen führen. Wir baden in Flüssen und glasklaren Seen und verrichten unsere Notdurft in der Steppe. Der Komfort der westlichen Welt ist weit weg. Das ständige Draussensein bei Wind und Wetter und die vielen Stunden im Sattel zehren an den Kräften. Aber es ist auch ein schönes Gefühl, sich abends todmüde im Schlafsack einzukuscheln und in die Stille zu lauschen. Hier gibt es keinen Verkehr, keinen Lärm. Das einzige, was wir hören, ist das malmende Geräusch der grasenden Pferde, die rund um unsere Zelte weiden. Oder in der Ferne ein brüllendes Yak.

Jeden Tag reiten wir ein anderes Pferd. Das ist ganz schön herausfordernd. Denn jedes Pferd hat seinen eigenen Charakter. Aber bald wissen wir um die Macken und Vorzüge eines jeden Einzelnen. Manchmal wechseln wir die Pferde auch mehrmals am Tag. Dann schauen wir den Guides, Sumbe und Baagii, fasziniert zu, wie sie versuchen, unsere neuen Reittiere einzufangen – kein einfaches Unterfangen. Schliesslich sind die Tiere die meiste Zeit frei in der Herde unterwegs und nicht so zutraulich wie europäische Reitpferde.

Es ist schön, die Tiere in ihrem natürlichen Verhalten zu beobachten und mit ihnen in dieser überwältigenden Landschaft unterwegs zu sein. Als Reiter können wir uns auf sie verlassen. Sicher tragen sie uns über enge Gebirgspassagen, steil bergab und steil bergauf. Wir durqueren Flüsse und Sümpfe, durchkämmen Wälder und weitläufige Täler. Mal ist der Boden mit saftig grünem Gras bewachsen, mal mit feinstem Sand überdeckt. Mal findet unser Blick keinerlei Orientierungspunkte in der unendlichen Weite, mal türmen sich bizarre Felsformationen vor uns auf. Im Wechselspiel von Licht und Schatten nimmt unsere Umgebung immer wieder neue Farben und Konturen an.

Unterwegs treffen wir auf Nomadensiedlungen. Diese bestehen aus einer Gemeinschaft von mehreren Gers. Die traditionelle Behausung der Mongolen wird aus einem kreisrunden Holzgestänge konstruiert, darüber werden eine Filzmatte, eine wasserfeste Plane und ein Baumwollüberzug gespannt. In der Mitte steht ein Ofen, dahinter kunstvoll bemalte Holztruhen, in denen die persönlichen Sachen aufbewahrt werden. Die Betten sind entlang den Seitenwänden platziert. Tagsüber werden sie als Sofa benutzt. Rund um die Gers weiden Pferde und Ziegen- oder Yakherden, manchmal mit mehreren hundert Tieren. Die Bewohner sind neugierig. Sie laden uns zu Milchtee ein und reichen uns Aarol, getrockneter Joghurt. Die Gastfreundschaft der Menschen ist herzerwärmend. Es sind unvergessliche Momente, die wir so, unterwegs mit den Pferden, in den unendlichen Weiten der Mongolei erleben. Wir sind gekommen, weil wir ein Abenteuer suchten. Gefunden haben wir viel mehr.

Reiten für mongolische Kinder 

Der „Great Mongolian Ride“ fand vom 20. Juli bis 23. September 2022 statt. In 64 Reittagen, aufgeteilt in 6 Etappen, legten 13 Teilnehmende 3100 Kilometer quer durch die ganze Mongolei zurück. Die Autorin des Textes hat an der ersten und zweiten Etappe teilgenommen. „Saraa’s Horse Trek Mongolia“ führt das ganze Jahr über Reittrekkings für Reiter jeden Levels durch und unterstützt damit die „Misheel Kids Foundation“.